Dieser Artikel erschien am 04.09.2023 im Beobachter
Alle Bilder: Hanna Jaray
Die Tour, die vor uns liegt, ist 5,6 Kilometer lang und hat angenehme 355 Höhenmeter. Eine leichte Wanderung auf den Bürgenstock mit hübscher Aussicht, etwas für einen entspannten Tag. Doch bald
fühle ich mich so erschöpft wie lange nicht mehr. Nicht körperlich, sondern mental. Denn heute bin ich als Begleiterin von Jacqueline Egger unterwegs.
Vor 18 Jahren erblindete sie vollständig – und fand eine Weile lang nur wenige Freunde und Freundinnen, die mit ihr Ausflüge oder gar Sport machen wollten. «Viele trauten mir sportliche
Aktivitäten kaum zu. Sie waren besorgt, etwas falsch zu machen», erzählte sie, als wir vor der Wanderung in der Villa Honegg einen Kaffee tranken. Sie erlebe oft, dass Leute mit Unsicherheit und
Ängsten auf Menschen mit Beeinträchtigung reagieren. «Ich musste mich erst durchsetzen und vieles einfach mal wagen, um meinem Umfeld zu zeigen, was möglich ist», sagt Egger. Und möglich sei
«praktisch alles».
Eine Frage der Konzentration
Dass sie heute Kajak und Tandem fährt, golfen und wandern geht, ist nicht selbstverständlich. Egger investierte viel Zeit, um ihre Stabilität, Flexibilität und ihre Grundkonstitution zu
trainieren. Sie machte Gleichgewichtsübungen und tanzte. «Als blinde Person brauche ich einiges mehr an Kraft, da ich mit meinem Körper immer nach einem guten Stand suchen muss», sagt sie. Als
schwierig eingestufte Wanderungen
Gefahren auf Bergtouren Tipps für sicheres Wandern
lässt Egger bleiben. «Da wird es mit der Zeit vor allem wegen der Konzentration sehr anstrengend», sagt sie. Es sei weniger der Körper, der an den Anschlag komme, sondern der Geist. Das merkte
sie kürzlich während einer Wanderwoche auf Zypern. Viele lose Steine auf den Wegen machten die Wanderungen massiv anspruchsvoller.
Lose Steine gibt es auf dem Bürgenstock kaum, doch als der Waldweg ansteigt, die Wurzeln grösser werden und nasse, rutschige Steinflächen den Aufstieg herausfordernder machen, wird es streng. Auf einen leichten Anstieg im Tannenwald folgen gut befestigte Wege in Felshöhlen und geschwungene Pfade über Wiesen und Kuhweiden. Egger hält sich mit ihrer Hand ganz leicht über meinem Ellbogen fest, fast wie freundschaftlich eingehakt. Wird es eng auf den Wanderwegen, hält sie sich an meinem Rucksack, geht ganz genau hinter mir.
Auf unserer Wanderung mit dabei sind Grace Kumar Selvarajah – «einfach G. K.», sagt er – und sein Begleiter Heinz Moser. Selvarajah ist vor sechs Jahren erblindet. Danach habe er das Gefühl gehabt, alles, was früher selbstverständlich war, könne er kaum mehr machen. Sport zum Beispiel oder auf Reisen gehen. Bis er vor einigen Monaten bei einem Kurs Jacqueline Egger kennenlernte. Dank ihr und weiteren Bekannten habe er wieder mehr Selbstvertrauen gewonnen.
Er möchte nun öfters wandern gehen, an Kursen und Ausflügen teilnehmen. «I want to be involved and want to be independent – ich möchte Teil der Gesellschaft und unabhängig sein», sagt der
gebürtige Tamile, der vor vier Jahren mit seiner Familie in die Schweiz kam. Letztes Jahr ging er auf seine erste Wanderung. Er war nervös: Würde er es schaffen? Danach wusste er: Die Antwort
lautet ja! Und das «I can’t do this – ich kann das nicht», das sich seit der Erblindung in seinem Kopf festgesetzt hatte, wandelte sich zum neuen Lebensmotto «I can do anything – ich kann alles
tun».
Die Landschaft spüren
Die Aussicht vom Chänzeli ist grandios. Der Blick auf den Vierwaldstättersee und die Alpen, die ihn säumen, ist beeindruckend. Selbst als praktisch Einheimische muss ich das zugeben. Ich sehe
Kühe, Wald und das Berg-See-Panorama. Doch wie nimmt Jacqueline Egger die Landschaft wahr? «Sitze ich im Auto oder im Zug, bekomme ich von der Umgebung nichts mit», sagt sie. «Beim Wandern
hingegen erlebe ich die Natur mit dem Körper. Ich spüre den Boden – die Wiese, den Kies oder den Blätterteppich –, ich rieche Gülle, den feuchten Wald und die Blumen. Ich höre die Vögel und spüre
den Wind.»
Aber auch die Aussicht sei wichtig, betont Egger, die mit 41 Jahren komplett erblindete. «Ich will beim Wandern nicht über alltägliche Themen sprechen oder über Politik», sagt sie, «ich möchte
wissen, wie es um mich herum aussieht.» Ich beschreibe ihr die moosbewachsenen Tannen, die Felsen, in die das Wasser Wellenformen gewaschen hat, die hohen Farnwiesen, den glatt daliegenden
Vierwaldstättersee, auf dem ein paar wenige Segelboote dahingleiten. Ich führe ihre Hände an Moos und Farn und zu den wilden Erdbeeren, die hier wachsen.
Die Dinge konkret auszudrücken, daran muss ich mich erst gewöhnen. Nicht bloss von einer «schönen Aussicht» zu sprechen, sondern von den Mustern, die Sonne und Wolken auf die Felswände zeichnen.
Noch detaillierter als die Umgebung beschreibe ich den Weg vor unseren Füssen. Ich warne vor Wurzeln und vor Steinen. Ich kündige Treppenstufen an, Regenrinnen, Viehsperren und Drehkreuze. Ich
weise darauf hin, wenn ein Weg länger steil aufsteigt, wenn Treppen nicht mehr zu enden scheinen, wenn ein Etappenziel in Sicht ist.
Vertrauen ist alles
Blinde oder Sehbehinderte müssen ihrer Begleitperson absolut vertrauen können. «Ich habe Freunde, mit denen ich nicht mehr als einen Spaziergang entlang des Quais machen würde», sagt Egger und
lacht. Das sei vollkommen okay. Eine Begleitperson müsse wach und aufmerksam sein, aber auch empathisch und vorausschauend. Das sei nicht allen gegeben.
Heinz Moser, der heute mit G. K. unterwegs ist, begleitet seit rund vier Jahren blinde und sehbehinderte Menschen beim Sport oder auf Ausflügen. Der Soziialpädagoge war bereits mit vielen
Personen auf unterschiedlichsten Touren. Er ging mit ihnen Schneeschuhwandern, fuhr Tandemvelo, begleitete sie während Kulturwochen. Er sagt: «Sie haben mich gelehrt, die Welt auch anders
wahrzunehmen. Ich erkenne, wo Stolperfallen lauern und welche Hindernisse blinde Menschen im Alltag überwinden müssen.»
Kurz bevor wir die Krete erreichen und damit die Terrasse des Hammetschwand-Lifts mit Blick über den Vierwaldstättersee bis hin zum Luzerner Seebecken, kurz bevor uns ein weiterer kleiner
Regenschauer erwischt, steht unbeweglich eine Kuh auf dem Weg. Es gibt kein Durchkommen, wir müssen in den Wiesenhang steigen. Eben erst habe ich mich daran gewöhnt, klar abgesteckte Wege zu
beschreiben, nun wird es sehr kompliziert. Ich bemerke, wie stark ich mich in dem steilen, von Kuhhufen zertretenen Hang auf meine Augen verlassen muss, wie schwierig es ist, genaue
Schrittgrössen und -höhen zu beschreiben. Nach einer gefühlten Ewigkeit im Kommunikationschaos mündet das Geklettere in Gelächter. Die Kuh hat sich davongemacht, kaum sind wir um sie
herumgestiegen.
Mal selbst die Augen schliessen
Auf dem Felsenweg angekommen, drückt mir Jacqueline Egger ihren Blindenstock in die Hand, und Heinz Moser bietet mir seinen Arm. Ich kann nun selbst erfahren, was es bedeutet, einem Menschen
komplett zu vertrauen. Das funktioniert bei meinem Begleiter gleich von Anfang an. Vielleicht, weil ich ihn bereits vorher in Aktion erlebt habe, vielleicht, weil ich als Begleiterin von
Jacqueline selbst die Verantwortung spürte. Bald merke ich, wie ich kleinste Veränderungen beim Ansteigen oder Abfallen des Weges mit geschlossenen Augen intensiver wahrnehme, als wenn ich sie
kommen sehe.
Abends ist mein Kopf voll von all dem, was ich heute gelernt habe. Wie wichtig eine exakte Kommunikation ist, welche Behinderungen Blinde erleben und wie viel sie trotzdem unternehmen können. Und
ich habe gelernt, dass man den Blindenstock neben und nicht vor dem Körper halten sollte, will man nicht riskieren, sich selbst bei kleinsten Unebenheiten den Stock in die Lende zu rammen.
Folgende Institutionen bieten Wanderungen und andere Aktivitäten für Personen mit Sehbehinderung an: